Warum aber sind die bedeutenderen seiner Werke oder die historische Persönlichkeit selbst Kulturinteressierten so wenig bekannt?
Ganz sicher wird die Annäherung zunächst durch seine Universalität erschwert. Zu Rists Zeit gehörten poetische wie naturwissenschaftliche Konzepte zu einem geschlossenen Bildungsbegriff, und so wundert es nicht, dass der Wedeler Universalgelehrte sich umfassend – literarisch, poetisch, musikalisch, naturwissenschaftlich und auch politisch – artikulierte. Aus internationaler Perspektive gilt Johann Rist als einer der großen deutschen Barockdichter, als eine Schlüsselperson in den barocken Dichtergesellschaften. Bei uns verhindern noch immer gravierende Deutungsfehler den freien Blick auf sein ungemein anregendes Werk. Zudem verstellte für lange Zeit die Wahrnehmung seiner Texte als schwülstige Barockdichtung den Weg zu tieferem Verständnis und zu Interpretationsansätzen für unsere Gegenwart.
Doch das ändert sich gerade grundlegend:
Die poetologische Forschung lotet einerseits die europäische Dimension von Rists Wirken aus, mit besonderem Fokus auf der französischen und italienischen nationalsprachlichen Dichtung, die der deutschen zeitlich deutlich voraus war. Gleichzeitig interessiert Rists selbstverständlicher Umgang mit der regionalen kirchlichen, juristischen und politischen Elite sowie sein Wirken als kulturstrategischer Organisator – ausgehend wiederum von seiner Wedeler Wirkungsstätte über die deutschen Dichtergesellschaften bis hinein in den europäischen Diskurs.
Politologisch bedeutsam ist zunächst die zeitige Erkenntnis Rists, dass der 30-jährige Krieg sich von einem Religions- zu einen politischen Krieg wandelte und deren Aufarbeitung in seinem Drama „Das friedewünschende Teutschland“, 1647. Daneben ist Rists Ökonomiediskurs (etwa in „Der adeliche Hausvatter“, 1650) ein noch nicht ausdiskutierter Beitrag zur Hausväterliteratur des 17. Jahrhunderts. Hier werden Fragen der Ökonomie von Haushalten und Gemeinwesen abgehandelt. Rist wendet sich etwa gegen inflationäre Tendenzen, die durch zur Verschwendungssucht neigende bürgerliche Kreise hervorgerufen werden. Mit zunehmendem Alter bildet Rist eine schärfer werdende, an die Obrigkeit gerichtete Sozialkritik aus.
Von naturwissenschaftlichem Interesse ist die Verortung Rists in der lutherisch-barocken Tradition, wonach Erkenntnis nicht nur aus dem „Buch der Bücher“, sondern auch aus dem „Buch der Natur“ erwächst. Seine Leidenschaft für die moderne Naturwissenschaft und die Botanik sind belegt. Die aktuelle Forschung erörtert Rists Beitrag zu Lehre und Praxis des hermetischen Paracelsismus, einer frühen Form der naturkundlichen Alternativmedizin.
Die umfassendste Neubewertung jedoch erfährt Johann Rist als Poet im theologischen und musikalischen Kontext. Er entwickelte in Kooperation mit bedeutenden Musikern seiner Zeit ein umfassendes, kulturgeschichtlich bedeutsames Arienkonzept. Wesentliches Merkmal dabei ist das Verschmelzen von Musik (von der man annahm, sie könne Herzen bewegen) mit einer kunstvollen, nationalsprachlichen Textdichtung, die sowohl musikalische Potentiale bot als auch solche Impulse in sich aufnehmen konnte. Rists Ziel, „bewegliche“, also das Gemüt anrührende Kunstwerke aus Dichtung und Melodie zu schaffen, war im frühen 17. Jahrhundert weitgehend Neuland für einen deutschsprachigen Dichter und seinen Musikerkreis. Die Bemühungen waren von Erfolg gekrönt: Johann Rists Schöpfungen waren so beliebt, dass eine ganze Anzahl von ihnen durch melodische Vereinfachungen in gemeindetaugliche Kirchenlieder umgewandelt wurden. Irrtümlich hat man später wie selbstverständlich unterstellt, diese Schlichtheit sei der eigentliche Charakter des Rist’schen Werkes – der Blick auf das übergeordnete Kunstkonzept öffnet sich erst seit ein paar Jahren.