Das Umfeld

Die Umgebung

In Schulau verweisen gleich zwei Straßenbezeichnungen auf einen Ort namens „Parnaß“. Ausgehend von der Abzweigung Rollberg und Elbstraße in Richtung Elbe entstand in den 1950er Jahren die Parnaßstraße. In deren Mitte biegt der etwas früher entstandene Parnaßweg ab. Beide grenzen das Gebiet des beginnenden Elbhochufers ein. Dort mag der Ort „Musen‐Parnaß“ gelegen haben, dem zweifellos Johann Rist diesen Namen gab.

Elbwanderweg, Blick Richtung Süden

Elbwanderweg, Blick Richtung Süden

Es muss eine markante Erhebung gewesen sein, die einen Weitblick gewährte. Heute ist das Gebiet bebaut. Der Weitblick, den man noch heute in den Wintermonaten erahnen kann, ist durch die Bäume auf einem in der Nachkriegszeit aufgeschütteten Inselstreifen (zwischen Neßsand und Hanskalbsand) verstellt.

Zu Rists Zeiten konnte man noch ungehindert die Kirchtürme von York, Steinkirchen und Stade im Alten Land sehen.

Titelkupfer „Johann Risten Neuer Teutscher Parnass"

Titelkupfer „Johann Risten Neuer Teutscher Parnass“

Sicher war es ein inspirierendes Gefühl , in die friedfertige Weite „teutscher Lande“ geblickt zu haben. 1650, angesichts des  überstandenen Dreißigjährigen Krieges mag Rist aber auch ein weihevolles vielleicht sogar demutsvolles und todesahnendes Empfinden überkommen haben.

„Kann ich denn an diesem Ort,
auf des schönen Hügels Spitzen,
wo der ungestüme Nord
kaum mich lässet sitzen,
Lauter nichts Beständiges sehn?
[…]
Seht, die flügelschnelle Zeit
will bereit
uns ein Grabmal geben
[…]
Nun Parnassus, gute Nacht!
Es ist aus mit meinem Spielen.
Hab ich Vers´ auf dir gemacht,
die der Welt gefielen.
Fort nicht mehr; Ich will in Ruh
immerzu
nach dem Himmel zielen!“
[Johann Rist, Lied, in: Himlische Lieder, 1658]

Die Bezeichnung „Parnass“ übernahm Rist aus der damals gängigen und zugleich hoffähigen Verehrung für die griechische Mythologie. Ein zu gleicher Zeit (1658) entstandenes Gemälde von Claude Lorrain (1600‐1682) zeigt eine idealisierte Flusslandschaft mit Schwänen und äsendem Rotwild. Eine Flußgottheit an einer Quelle. Im Hintergrund der Appollontempel auf dem Parnaß mit einer Personengruppe: Apoll und die Musen.

Lorrain, Parnass

Lorrain, Parnass

Es mag wohl die Ähnlichkeit der Landschaftsformation gewesen sein, die Rist veranlasste, den griechischen Ort nach Wedel zu verlegen. Auch die Quelle fehlte nicht. Sie ist auf der obigen Buchillustration durch einen Brunnen angedeutet. Heutzutage findet sich die geologische Entsprechung in dem Tümpel am Kinderspielplatz an der Parnaßstraße. Rotwild und Schwäne sind ersetzt durch Ochs, Esel und eine Schafherde. Viel wichtiger erscheint aber der mythologische Zusammenhang. Rist betrachtet sich seit 1645 zu Recht als der vom Kaiser gekrönte Dichterfürst. Das Titelbild zeigt ihn als den Propheten mit erhobener Hand und einem Buch auf dem Schoß (eine Bibel? eine deutsche Rechtschreibung? eine „Dichtkunst“ von Martin Opitz? ein eigenes Werk?), umrahmt von befreundeten Musikern. Apollon, der griechische Gott der sittlichen Reinheit, der Weissagung (aus dem Flug der Vögel ) und der Künste, ständig begleitet durch die Musen, gilt als Gründer der Orakelstadt Delphi zu Füssen des Parnaß‐Gebirges. Dort entspringt die Kastalinische Quelle, aus der die Musen tranken. Quell der künstlerischen Schöpfungskraft.

Raffael, Parnass

Raffael, Parnass

Ein Jahrhundert früher bildete Raphael den Parnaß als Wandmalerei in den Räumen des Vatikans ab. Im Zentrum der leierspielende Appoll, links von ihm Calliope, „die Schönstimmige“, die Muse der epischen Dichtung, der Wissenschaft, der Philosophie und des Saitenspiels. Rechts, die Muse des Theaters und der Tragödie mit der Trauer‐Maske in der Hand. Links, die lachende Maske haltend, Thalia, Muse der Komödie. Und wiederum rechts am Rande, den Zeigefinger zum Himmel deutend, die Muse Polihymnia, die Liederreiche, sie beschert jenen Schreibern himmlischen Ruhm, deren Werke sie für unsterblich hält.
Ob sich Johan Rist von diesen Musen küssen ließ?

Die Vielfalt seiner Werke lässt es vermuten.