Rist und die Musik

von Dr. Matthias Dworzack

Johann Rist-Denkmal an der Immanuelkirche in Wedel

Im September 1667 fand in der heutigen Wedeler Immanuelkirche die Trauerfeier für Johann Rist statt. Dabei kam es zur Uraufführung einer seinerzeit hochmodernen Trauermusik, an der teils internationale Spitzenmusiker, die in Hamburg engagiert waren, mitwirkten. Die gesamte Veranstaltung wurde publiziert und ist vollständig erhalten. „…Rists Trauerfeier ist für die Nachwelt eine im historischen Sinne ideal dokumentierte Veranstaltung der frühen Neuzeit. Das herausragende Musikwerk, das aus ihrem Anlass entstand, wirft zugleich ein letztes Licht auf die musikalischen Interessen und Ziele des Verstorbenen, der als eine der Schlüsselgestalten im mitteleuropäischen Kulturleben des 17. Jahrhunderts zu gelten hat.“ [1] (Prof. Konrad Küster; Freiburg)

Spannend: Einem im Alter von 60 Jahren verstorbenen Wedeler Dorfpfarrer wird von der neueren Geisteswissenschaft europaweite Strahlkraft im Rang einer epochalen Schlüsselfigur zugeschrieben – wie lässt sich das erklären? Ein Teil der Antwort auf diese Frage erklärt sich aus Rists enormen Einfluss auf die Entwicklung der geistlichen Vokalmusik seiner Epoche, und darum soll es an dieser Stelle gehen.

Hinterher ist man immer schlauer – oder versteht zumindest manches besser

Im Laufe des 19. Jhd begann man, die Zeit von 1600 bis 1720 als „Barock“ zu bezeichnen. Der Begriff leitet sich aus dem portugiesischen „barocco“ ab, dem Wort für eine unregelmäßig geformte Perle [2]. Eine wahrlich sinnfällige Bezeichnung für eine Zeit, in der die Pest und der 30-jährige Krieg sowie im Herbst 1618 ein großer Komet, der als Strafandrohung Gottes wahrgenommen wurde, die Menschen glauben ließen, das Ende aller Dinge stünde mehr oder minder unmittelbar bevor. Zudem gab es wegen der so genannten „Kleinen Eiszeit“ immer wieder Hungersnöte und Mitteleuropa steuerte auf eine massive Inflation zu. Aus all diesen Phänomenen speiste sich das kollektive Empfinden einer final endzeitlichen Krise.

Die Kunst des Barocks bildete vor diesem Hintergrund der nicht enden wollenden Katastrophen drei Leitmotiven aus: „Memento mori“ (Bedenke, dass du sterben musst), „Vanitas“ (Vergänglichkeit) sowie „Carpe diem“ (Nutze den Tag), die das Lebensgefühl der Menschen reflektierten. Alle diese Motive setzen sich auf unterschiedliche Weise mit der verbreiteten Angst vor dem Tod und seinen Auswirkungen, aber auch dem Hunger nach Leben auseinander.

Exemplarisch – und weil ein Bild mehr sagt als tausend Worte – kann hierfür das berühmte Stillleben des Elsässer Malers Sebastian Stoskopf stehen, in dem Alltäglichkeit, Pracht und Vergänglichkeit den Dreiklang des 17. Jhd widerspiegeln [3]. Gebrauchsgegenstände des Alltags und kostbare Behältnisse, aber auch zerbrochene Gläser vor einem düsteren Hintergrund vermitteln uns das Bild einer komplexen Stimmungslage.

Johann Rist als geistlicher Dichter und Musikinitiator

Johann Rist (1607–1667) zählt anerkanntermaßen zu den einflussreichsten und produktivsten lutherischen geistlichen Dichtern des 17. Jahrhunderts neben Gestalten wie Andreas Gryphius, Simon Dach, Sigmund von Birken oder Paul Gerhardt. Im Zuge seines äußerst ertragreichen Zusammenwirkens mit in seiner Zeit tonangebenden Komponisten wie Andreas Hammerschmidt, Thomas Selle und Heinrich Scheidemann sowie mit weiteren befreundeten Tonkünstlern wie Christian Flor, Michael Jacobi, Johann Schop u.a. schuf Rist mehr als 700 geistliche Lieder und Arien in 13 breitangelegten Sammlungen. [4]

Dabei waren die Lebensumstände, unter denen Johann Rist sein ungemein produktives Schaffen entfaltete, durchaus fordernd: Schon der nach dem schwedischen General Lennart Torstensson (1603–1651) benannte Torstenssonkrieg (1643–1645) als auch die schwedisch-dänischen Kriege (1657-1660) trugen Rist in den Jahren 1644 und 1658 schwere Plünderungen seines Pastorats in Wedel und erhebliche Verluste ein, die zwar nicht Leib und Leben seiner Familie, wohl aber deren Besitzstände betrafen.

Vor diesem Hintergrund wird deutlich: Rists geistlich-lyrisches Schaffen war darauf aus, den erschöpften Glaubenden ermutigende Gesänge an die Hand zu geben. Von allem Anfang an richtete er dabei seine Intentionen auf das aus, was gleichzeitig als frühe „italienische Aria“ entwickelt wurde. In Summe handelt es sich um das insgesamt 30 Jahre währende Projekt der Schaffung einer evangelisch-tröstlichen Gegenwelt, mit deren Hilfe fundamentaler Einspruch erhoben wird gegen die von Kriegsläufen, Hunger und Not geprägte, empirisch erlebte Wirklichkeit. [5]

Jeder einzelnen Publikation stellt Rist ein sehr ausführliches Vorwort voran, so dass wir über seine jeweiligen Absichten stets bestens informiert sind. Insgesamt ging es ihm als Dichter bei der Einbeziehung der musikalischen Dimension darum, ausgehend von seinem eigenen Gedichtschaffen einen höheren Kunstcharakter zu erschließen, der das einstimmige Singen nicht ausschließt, jenseits dessen aber alle instrumentalen und künstlerischen Freiheiten ermöglicht. Der Raum künstlerischer Freiheiten insgesamt war hierbei weit gesteckt: So lotet er beispielsweise im Jahr 1662 mit dem Lüneburger Komponisten Christian Flor im „Musikalischen Seelenparadies“ das „chromatische Total“ – also den Gang durch sämtliche Tonarten – aus, dies 60 Jahre vor Johann Sebastian Bachs Wohltemperiertem Klavier! [6]

Johann Rist besaß die Weitsicht aber auch die Mittel, alle seine Werke in Druck zu geben und zu publizieren. Vieles ging verloren, vieles ist zum Glück erhalten geblieben . Insgesamt stellen die existierenden Publikationen das umfangreichste erhaltene Oeuvre eines barocken Dichters überhaupt dar.

Aus dem Format der Notenbücher wird der aufführungspraktische Rahmen deutlich: Gedacht sind die Publikationen für den Einsatz in der häuslichen Kammermusik. Jede Seite hat etwa Din A6-Format, links steht die Melodie, rechts der Bass. Die Textierung der Bassstimme deutet eine vokale Aufführungspraxis an, eine frei ausgestaltete, beliebig besetzte instrumentale Begleitung der Melodiestimme ist ausdrücklich möglich. Ebenso ist der Notensatz für eine harmonische Erweiterung zur Vielstimmigkeit offen, darauf verweisen die Generalbasszeichen.

Rists musikalische Projekte waren in erster Linie bestimmt für den privaten Gebrauch, sei es zur persönlichen frommen Meditation oder zum gemeinsamen Musizieren in der Familie. In der Sammlung „Frommer und Gottseliger Christen Alltägliche Hausmusik“ von 1654 [7] lässt Rist anschaulich eine exemplarische Aufführungspraxis illustrieren: Singend, ein Instrument spielend, den Takt schlagend wird dort gemeinsam musiziert.

Kupferstich des Titelblatts der Schrift Frommer und Gottseliger Christen Alltägliche Hausmusik (Lüneburg 1654) von Johann Rist. Sign.: FB Gotha, Cant.spir 8° 360 (2)

Wie hat diese Musik geklungen?

Es drängt sich natürlich unweigerlich die Frage auf, wie denn diese Musik geklungen haben mag? Exemplarisch habe ich ein Werk Christian Flors ausgewählt, jenes Komponisten, mit dem Johann Rist 1662 u.a. am „Chromatischen Total“ gearbeitet hat Die Komposition „Inter bracchia“ [8] verwendet einen damals sehr populären kontemplativen Text, der sich in vielen Kompositionen des 17. Jhd wiederfindet. Mit einer gewissen Kenntnis der damaligen katastrophalen Lebensverhältnisse lässt sich unschwer nachempfinden, wie sehr diese Text/Musikkomposition einem ganz elementaren menschlichen Trostbedürfnis entsprochen haben muss:

Inter brachia salvatoris mei et vivere volo, et mori cupio.
Ibi securus decantabo, exaltabo te, domine,
quoniam suscepisti me,
nec delectasti inimicos meos super me.

Manuale Augustini 23, 2

In den Armen des Heilandes und Herren
zu leben begehre, zu sterben wünsche ich mir.
Da will ich ohne Sorge preisen und erheben
dich, Gott, mein Herr, weil du mich angenommen
hast, dass meine Feinde nimmer triumphieren über mich.

Übersetzung nach www.LyricFind.com X

[1] Christoph Bernhard (1628 – 1692), „Gott, sei mir gnädig nach deiner Güte“ Letzter Schwanengesang auf Johann Rist (1667) Prof. Konrad Küster /Hg.), Bad Köstritz 2007

[2] Silke Leopold, Art. Barock in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart [MGG], Allgemeine Enzyklopädie der Musik. 2. völlig neu bearbeitete Ausgabe. Bd. 1: A-BOG, Kassel 1994.

[3] https://www.kunsthalle-karlsruhe.de/kunstwerke/Sebastian-Stoskopff/Stilleben-mit-Gläsern-und-Pokalen/A3BEB15A4951EEFF67D0B8809247B1C4/

[4] Johann Rist (1607–1667), Profil und Netzwerke eines Pastors, Dichters und Gelehrten. Johann Anselm Steiger/Bernhard Jahn (Hg.), Berlin u.a. 2015

[5] Johann Anselm Steiger, Paradies der Seele, zu Johann Rists geistlicher Lyrik, in Lutherische Theologie und Kirche. Christoph Barnbrock u.a. (Hg.), Oberursel 2017

[6] Konrad Küster, „…alle Claves durchgegangen“ Vollchromatik bei Johann Rist und Christian Flor (1662) in Johann Rist (1607–1667), Profil und Netzwerke eines Pastors, Dichters und Gelehrten. Johann Anselm Steiger/Bernhard Jahn (Hg.), Berlin u.a. 2015

[7] https://www.kirchenmusik-ekm.de/uploads/media/ZWISCHENTOENE_2012_1.pdf

[8] Richard Resch, Ensemble La Silla (2022) – Wenn ich nur Dich hab, Norddeutsche Barockmusik, bei Carpe Diem Records 2022, https://www.youtube.com/watch?v=kVJS-CljMYw abgerufen am 4.9.2023

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